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Resozialisierung eines Angstbeißers

geschrieben von Claudio(YCH) 
Resozialisierung eines Angstbeißers
04. Mai 1999 10:35

Hallo,

vor knapp 8 Wochen hatte ich mal eine Meldung an dieses Forum geschickt, in der ich um Hilfe gebeten hatte wegen der Umerziehung meines neu in das Familienrudel hinzugekommenen Vierbeiners. Daraufhin habe ich einige Anregungen und Tips bekommen, darunter auch recht widersprüchliche. Schließlich habe ich mich zur Zusammenarbeit mit Roswitha entschlossen, was auch weiterhin andauert.

Für alle Interesssierten möchte ich nun die Entwicklung der Dinge und meine Erfahrungen der letzten Wochen ins Forum stellen. Viellleicht kann der eine oder andere aus diesem Praxisbericht einen Gewinn erzielen.

Die Ausgangssituation war folgende:
2 Monate bevor ich die Meldung an das Forum schrieb, nahm ich den herrenlosen Hund auf. Balu (so wurde er dann getauft), ein Appenzeller-Rüde, geschätzt auf ca. 1 1/2 Jahre war bis dahin in einem mäßigen Gesundheitszustand: ungepflegte Erscheinung, leicht unterernährt, Probleme mit dem Hüftgelenk. Er verhielt sich in allen Situationen stark gehemmt, zeigte auf Reize nur schwache Reaktionen, am ehesten noch Erstarren. Die Gewöhnung an meinen ersten Hund, ebenfalls ein Rüde, war deshalb kein Problem.
Der erste Schritt war nun Balu´s Vertrauen in seine Umwelt zu stärken. Dazu wurde er zu nichts gedrängt, ich ließ ihn immer zuerst auf mich zukommen, anschließend wurde er gestreichelt (1.Fehler). Nach wenigen Tagen kam er nun nicht nur öfter, er klebte mir sprichwörtlich an den Fersen. Zu diesem Zeitpunkt traten dann auch die ersten ernsten Verhaltensprobleme auf.
Innerhalb kürzester Zeit entwickelte er sich zum Extrembettler was Streicheleinheiten anging. Zunehmend traten Aggressionen (auch gegenüger fremden Hunden)auf, die in den ersten Tagen noch nicht zum Ausbruch gekommen waren. Mehrfach wurde ich nun von Balu heftig gebissen, insbesondere beim Streicheln über dem Kopf, während der Zubereitung des Fressens, beim Fassen ans Halsband und bei Einschränkung seiner Bewegungsfreiheit. Das ganze spielte sich immer nach dem gleichen Muster ab: Anzeichen von Unsicherheit (Starre, Anlegen der Ohren, Lefzenlecken, heben der Pfote) in der ersten Sekunde, dann völliges Umschalten auf Angriff (der dann leider viel länger als eine Sekunde dauerte). Danach verzog sich Balu wieder wie ein geprügelter Hund.
Von jetzt an wurde Balu nicht mehr gestreichelt, alle Situationen in denen Aggressionen zu befürchten waren wurden strikt vermieden. Ansonsten blieb Balu umgänglich und lernfähig. Mittels Clickertraining hatte Balu Sitz, Platz, Hier u. Bei Fuß unter geringer Ablenkung gelernt. Trotzdem blieb der Zustand insgesamt unbefriedigend.

Nach langen Mails und Gesprächen mit Roswitha haben wir dann eine Strategie herausgearbeitet, um die Probleme besser in den Griff zu bekommen:
Ziel war es, dem Hund die innere Ruhe zurückzugeben und ihn von der Verantwortung seine Umwelt zu beeinflußen zu entbinden um die dominante Komponente seines Verhaltens zu unterdrücken.
Die ersten Schritte dazu waren Balu mehr zu ignorieren und Annäherungsversuch bereits im Ansatz zu unterbinden um eine größere soziale Distanz zu schaffen. Außerdem wurde er mehrmals am Tag für einige Zeit an ruhigen Plätzen im Haus angebunden. Zum einen um sich ungestört ausruhen zu können (Abbau innerer Spannungen), zum anderen um zu verhindern, daß er seinen Ranganspruch durch Einnehmen wichtiger Plätze im Haus bekräftigt sah. Futterspiele wurden verstärkt, was wesentlich zur Entspannung des Hundes führte. Jegliche Provokation kritischer Situationen wurde vermieden um aggressives Verhalten nicht weiter zu bestärken. Parallel dazu wurde erwünschtes Verhalten positiv Verstärkt: insbesondere beim Dulden von Berührung, das Anlegen eines Brustgeschirr und des Maulkorbs erwies sich die Arbeit mit dem Clicker als effektiv.
Zuspruch erhielt Balu in dieser Zeit nur mit Worten (kein Streicheln)zurechtgewiesen nur mit Körpersprache. Als unerwünschter Nebeneffekt trat in dieser Zeit übermäßiges Bellen auf, da meine Aufmerksamkeit (z.B. ein Blick) verstärkender wirkte als vorher.

Am Ende der ersten Phase zeigte Balu wesentlich mehr Sicherheit, er konnte sich nun im Haus entspannt zur Ruhe legen, akzeptierte meine Abweisungen ausnahmslos und ließ Berührungen wieder zu. Im Freien war er ansprechbarer, duldete fremde Hunde bis auf eine Distanz von "nur" ca. 50 Meter und auch das leidige Leinenzerren hatte sich endgültig erledigt.

Nach Absprache mit Roswitha beschlossen wir mit der zweiten Phase der Umerziehung zu beginnen, die noch fortdauert: der Stärkung der Bindung und Abhängigkeit und somit Festigung der Sozialordnung.
Erfolg oder Mißerfolg der weiteren Vorgehensweise hängen in dieser Phase entscheidend davon ab, ob der Halter in der Lage ist Widersprüche in der Kommunikation mit dem Hund abzubauen und sich ritualisierter Formen hundlichen Verhaltens zu bedienen. Insofern war die Lernleistung nun von meiner Seite her zu erbringen.
Die ersten Versuche bei der Anwendung des Scheinangriffes bei hoher Reizlage Balu´s erwiesen sich zunächst als ernüchternd. Die Reaktion darauf war Erstarrren. Dauerhaft ließ er sich aber nur dadurch von seiner Tätigkeit abbringen, wenn aus dem Scheinangriff ein richtiger Angriff wurde. Da durch die vorangegangenen Maßnahmen Balu´s Aggressionsbereitschaft gesenkt wurde hielt sich seine Gegenwehr in Grenzen, sodaß sich heute auch Scheinangriffe etabliert haben. Ich denke, daß die Einführung der Scheinangriffe zu einem früheren Zeitpunkt eine viel heftigere Gegenwehr hervorgerufen hätte, die u.U. kontraproduktiv gewesen wäre.
Bei meinem zweiten Hund haben die Scheinangriffe sehr extreme Reaktionen ausgelöst, was einerseits ihre Wirksamkeit unterstreicht andererseits auch die Gefährlichkeit bei gedankenloser Durchführung.
Auch in dieser Sache bin ich für die Unterstützung Roswithas sehr dankbar.

Abschließend kann ich sagen, daß der eingeschlagene Weg sich als beständig und zuverlässig erwiesen hat. Größere Einbrüche im Verhalten (unabhängig von der Tagesform von Hund und Halter) hat es nicht gegeben. Die Synergie von positiver Verstärkung (Clickertraining) und den Ansätzen, die im Forum als C.A.R.E. bekannt sind, hat in meinem Fall viele Vorteile gebracht.
Wir habe die Sache zwar noch nicht ganz durchgestanden aber der bisherige Verlauf war sehr ermutigend und läßt eigentlich nur gutes hoffen.

tschüß Claudio

04. Mai 1999 17:20

Grüß Dich Claudio,

vielen dank für diesen genauen bericht. ich glaube, man kann viel daruas lernen.

: Innerhalb kürzester Zeit entwickelte er sich zum Extrembettler was Streicheleinheiten anging. Zunehmend traten Aggressionen (auch gegenüger fremden Hunden)auf, die in den ersten Tagen noch nicht zum Ausbruch gekommen waren. Mehrfach wurde ich nun von Balu heftig gebissen, insbesondere beim Streicheln über dem Kopf, während der Zubereitung des Fressens, beim Fassen ans Halsband und bei Einschränkung seiner Bewegungsfreiheit. Das ganze spielte sich immer nach dem gleichen Muster ab: Anzeichen von Unsicherheit (Starre, Anlegen der Ohren, Lefzenlecken, heben der Pfote) in der ersten Sekunde, dann völliges Umschalten auf Angriff (der dann leider viel länger als eine Sekunde dauerte). Danach verzog sich Balu wieder wie ein geprügelter Hund.

du schilderst einen klassischen angstbeißer in aktion, der zum glück noch über genügend körpersprache verfügt. lefzenlecken und heben der pfote sind besänftigunggesten. du hast sie offensichtlich ignoriert und der hund hat "sich verteidigt". da ist nichts dominant. diese gesten findet man in extrem widersprüchlichen situationen (z.b. zähne zeigen und gleichzeitig lefzen lecken)

: Von jetzt an wurde Balu nicht mehr gestreichelt, alle Situationen in denen Aggressionen zu befürchten waren wurden strikt vermieden. Ansonsten blieb Balu umgänglich und lernfähig. Mittels Clickertraining hatte Balu Sitz, Platz, Hier u. Bei Fuß unter geringer Ablenkung gelernt. Trotzdem blieb der Zustand insgesamt unbefriedigend.
: Bei meinem zweiten Hund haben die Scheinangriffe sehr extreme Reaktionen ausgelöst, was einerseits ihre Wirksamkeit unterstreicht andererseits auch die Gefährlichkeit bei gedankenloser Durchführung.

ich persönlich halte scheinangriffe für eine unnötige erschwernis. sie verunsichern einen hund in einer situation, in der er sicherheit empfinden sollte - zu hause. in einem andern posting schrieb jemand, der hund würde allmählich aggressiv. was soll er auch anderes tun, wenn die scheinangriffe unangemessen häufig werden? scheinangriffe können bei selbstsicheren hunden ganz brauchbar sein. bei unsicheren kann ich nur das konditionierte NEIN (s. clicker-seiten) empfehlen DENN DER MENSCH BLEIBT DIE INSTANZ BEI DER SICHERHEIT HERRSCHT.
ich selber habe lernen können, daß konsequente anwendung des clickers zusammen mit ignorieren dem clicker die zusätzliche funktion eines sicherheitssignals verleiht. nach dem click gibt es absolut keinen zoff. damit kann man nunde durch situationen führen, bei denen man früher keine chance gehabt hätte. man muß nur von dem ambivalenten eigenen verhalten wegkommen.

: Auch in dieser Sache bin ich für die Unterstützung Roswithas sehr dankbar.

na klar, roswitha hat mehr drauf, als die meisten glauben.

: Abschließend kann ich sagen, daß der eingeschlagene Weg sich als beständig und zuverlässig erwiesen hat. Größere Einbrüche im Verhalten (unabhängig von der Tagesform von Hund und Halter) hat es nicht gegeben. Die Synergie von positiver Verstärkung (Clickertraining) und den Ansätzen, die im Forum als C.A.R.E. bekannt sind, hat in meinem Fall viele Vorteile gebracht.
: Wir habe die Sache zwar noch nicht ganz durchgestanden aber der bisherige Verlauf war sehr ermutigend und läßt eigentlich nur gutes hoffen.

na, sagen wir einmal, außer dem schlagwort C.A.R.E. ist nicht viel rübergekommen ....

tschüß martin & mirko