Hallo,
in der Diskussion mit BM-Susi über Kupieren/Kastrieren ist der Vorwurf gefallen, daß bei einigen Rassen (= "Gebrauchshundrassen"
lt. Standart/Rasseprofil eine "mittlere Reizschwelle" gewünscht wird. Auch fällt mir auf, daß sich hier im Forum oftmals mit Begriffen wie "Triebveranlagung", "Aggression", "Härte" usw. schwergetan wird. Ist es möglich, daß hier von Einigen in diese Begriffe der "Angstbeißer" hineininterpretiert wird, ohne daß sie sich über die Bedeutung dieser Begriffe im Klaren ist und die Auswirkung auf die Zucht vieler Rassen, wenn man Hunde mit mittlerer Reizschwelle, hoher Triebveranlagung, einer gewissen Härte und einem ausgeglichenen Aggressionspotential aus der Zucht nehmen würde? Mich würde Eure Meinung zu diesem Thema wirklich interessieren! Deshalb hier mal einige Definitionen für diese in meinen Augen neutral zu wertenden Begriffe, die auf einige wie ein rotes Tuch zu wirken scheinen. (Trotzdem bin ich der Meinung, daß man sie nicht durch andere Begriffe ersetzen sollte, wie es heute vielfach gemacht wird.)
Mit "Reizschwelle" wird die Mindestgröße eines Reizes bezeichnet, die bei einem Lebewesen eine Reaktion auslöst. Z.B. unterliegt ein Hund mit einer hohen Reizschwelle sehr schnell der reizbedingten spezifischen Ermüdung, so daß er als Arbeitshund nicht geeignet ist, da er immer wieder sehr starke Reize benötigt. Dabei ist der "Reiz" als Stimulus zu werten, der als physikalischer Zustand im Organismus eines Lebewesens zu einer Veränderung führt, und bezieht sich nicht, wie manchmal anscheinend angenommen wird, ausschließlich auf irgendwelche Arbeiten im Schutzdienst. Eine mittlere Reizschwelle ist für alle Arbeiten, die von einem Hund bewältigt werden können, notwendig, egal ob Schutzhund, Suchhund in allen Varietäten, Herdengebrauchshund, Jagdhund, Blinden- und Behindertenhund usw.. Die einzigste Aufgabe, die ein Hund mit hoher Reizschwelle problemlos bewältigen kann, ist die des Familienhundes. Mit allem anderen wäre er überfordert.
"Aggression" ist die Sammelbezeichnung für alle Elemente des Angriffs-, Verteidigungs- und Drohverhaltens. Dabei wird unterschieden zwischen innerartlicher und zwischenartlicher Aggression. Das Vorhandensein von Aggression ist lebensnotwendig. Auf der zwischenartlichen Aggression (bezogen auf Beute oder Feind) basiert der Beutetrieb und das Terretorialverhalten, auf der innerartlichen Aggression baut das gesamte Sozialverhalten auf. Beim Hund heißt das, wie bei allen anderen Lebewesen auch: Ohne Aggression kein Leben, da keine Rudelbildung, kein Sozialverhalten, keine Zusammenarbeit bei der Jagd usw.! Im Gegensatz zu dem Begriff "Aggression" bedeutet "Aggressivität" das Ausmaß an Angriffsbereitschaft eines Lebewesens, die aber durch mehrere Komponenten ausgelöst wird, also nicht alleine durch Aggression.
Der Begriff "Härte" bezeichnet die Fähigkeit, unangenehme Empfindungen und Erlebnisse hinzunehmen, ohne sich auf Dauer oder momentan wesentlich beeindrucken zu lassen. Sowohl der Arbeits- als auch der Familienhund brauchen ein gewissen Maß an "Härte" zur Bewältigung seiner Aufgabe.
Bereits Pawlow klassifizierte vier Haupttypen der höheren Nerventätigkeit. Wenn man sich damit ein wenig auseinandersetzt, wird ganz schnell ersichtlich, was einen guten Arbeitshund, egal in welchem Bereich, ausmacht und warum ein perfekter Arbeitshund eigentlich immer auch ein guter Familienhund sein kann, auch wenn diese vier Grundtypen nur selten in „reiner Form" vorliegen und es, glaube ich, eine Unterklassifizierung mit 64 Mischtypen gibt. Es wundert mich immer wieder, wie wenig sich Hundeleute außerhalb des SchH-Sportes damit beschäftigt. Wer es schafft, sich selbst in dieses Schema einzusortieren, für den wird auch ganz klar ersichtlich, welcher Typ Hund für ihn der geeignetste ist. Hier eine kurze Übersicht:
Melancholiker: schwacher Typ, niedrige Reizschwelle, u.a. ausgeprägter Fluchttrieb und hohes Meideverhalten, überwiegend gehemmt, ängstliches Gebaren; die psychische Belastungsgrenze liegt weit unter der der anderen Typen und auf ihn trifft der Begriff "Angstbeißer" am häufigsten zu; nur ruhige und ausgeglichene Menschen sind für so einen Hund geeignete Besitzer (= Sanguiniker), Melancholiker und Choleriker eignen sich nicht; dieser Typ Hund eignet sich für keine Aufgabe außer als „alamierender Wächter", da er nicht ausbildbar ist (man kann versuchen, ihn weitgehend in das Alltagsleben zu integrieren)
Choleriker: starker, unausgeglichener, leicht erregbarer Typ, niedrige Reizschwelle, u.a. ständige Erregbarkeit, ausgeprägter Wehrtrieb, oft überdreht und selten gehemmt, zügelloses Gebaren; bei diesem Hund müssen Haltung-, Umgangs- und Erziehungsumstände stimmen; auch hier ist der Sanguiniker der richtige Besitzer, dann leisten diese Hunde vor allem im Diensthundebereich ganz hervorragende Arbeit; dieser Typ Hund darf nicht von einem Choleriker geführt werden
Sanguiniker: starker, ausgeglichener, beweglicher Typ, mittlere Reizschwelle, u.a. ausgeglichene Erregungs- und Hemmungsprozesse, selbstständig und ausgeglichen, kontrolliertes Gebaren; er ist für fast alles der ideale Hund, eagl für welche Arbeit oder auch als Familienhund, da er verläßlich und kontrollierbar ist. Im Gegensatz zum Choleriker kommt er nach einer Errregungsphase sehr schnell wieder in die Ruhephase; er ist für alle Hundeführer-Typen geeignet mit Ausnahme des Melancholikers, sofern dieser ihm die menschliche Alpha-Rolle nicht deutlich machen kann
Phlegmatiker: starker, ausgeglichener, träger Typ, hohe Reizschwelle; ist der problemlose Familienhund, unterliegt aber sehr schnell der reiz- bzw. aktionsbedingten spezifischen Ermüdung, so daß er als Arbeitshund nicht geeignet ist, da er sehr starke Reize benötigt; er ist für alle Hundeführer-Typen geeignet, allerdings mit der Einschränkung, daß er als Arbeitshund nicht nerventätig genug ist
Gemäß dieser Klassifizierung weist eigentlich nur der „Ideal-Hund" (= der Sanguiniker) die mittlere Reizschwelle auf, die in der Zucht aller Arbeitsrassen gefordert wird. Und der entspricht nun wirklich nicht dem Bild des um sich beißenden, schwanzeinklemmenden, wesensschwachen Hundes, der auf Befehl Gott und die Welt anfällt. Vielmehr sind alle Arbeitshunde auf dieser Welt, die Blinde sicher führen, unter Schnee und Trümmern nach Verschütteten suchen, als Hüte- und Treibhunde an Rindern und Schafen eingesetzt werden, als Jagdhunde am Wild arbeiten, Rauschgift, Sprengstoff, Brandmittel und vieles mehr suchen und auch Personen sicher schützen, Sanguiniker bzw. Sanguiniker-Mischtypen mit mittlerer Reizschwelle. Und ich persönlich fände, die Welt wäre verdammt viel ärmer drann, wenn wir auf alle diese wundervollen Hunde verzichten müßten!
Die größte Gefahr unter den Hunden ist der Melancholiker (= nervlich schwacher Typ mit niedriger Reizschwelle), und der wird in keinem mir bekannten Standart gefordert. Bei den Arbeitsrassen, die vor der Zuchtzulassung eine Prüfung machen müssen, hat er kaum Chancen, in die Zucht zu kommen. Bei den reinen Gesellschaftsrassen passiert es wohl manchmal, z.B. wenn betreffender Hund ein Champion ist oder eine Rasse skrupellos vermehrt wird, weil sie zum Modehund aufgestiegen ist. Hier wäre eigentlich als unkomplizierter Familienhund der Phlegmatiker gefordert.
Viele Grüße
Antje