Hallo, Harald,
Du hast geschrieben:
: Timor ist ein Hund aus dem Tierheim. Als ich ihn mitnahm war er 1 Jahr und 2 Monate alt und hatte bereits drei Vorbesitzer! Timor wurde als Welpe mißhandelt und isoliert gehalten.
Heute ist er ein gut lenkbarer Hund. Allerdings hab ich da noch ein Riesenproblem: zuhause zeigt er immer noch ein ziemlich aggressives Revierverteidigungsverhalten.
Nach dem, was Du anfangs beschrieben hast, frage ich mich, ob Timor wirklich zuhause sein Revier verteidigt, oder ob er dort, auf sicherem Boden natürlich deutlicher, nicht auch aus Angst signalisiert "komm mir nicht zu nahe". Er hat sehr früh und vehement die Erfahrung gemacht, dass Menschen es absolut nicht gut mit ihm meinen, und er hatte bis zu seinem 14. Lebensmonat keine Gelegenheit, sich wirklich auf einen Menschen als "Sozialpartner" verlassen zu können. Dann bist Du gekommen, hast ihn aus dem Tierheim befreit und ihn mit viel Liebe und Geduld nachsozialisiert und ihm geholfen, seine schweren seelischen (und evtl. auch körperlichen?) Wunden zu heilen. Entsprechend tief wird sicher die Bindung sein, die Timor zu Dir aufgebaut hat. (Ich habe selbst immer wieder Fundhunde aufgenommen und kenne dadurch manches "Drama"
. Wenn nun jemand zu Dir kommt, wird das bei Timor noch mit "Achtung, Gefahr" verknüpft sein, denn er weiß ja nicht, daß Du netten Besuch einlädtst. Er ist mißhandelt worden, ist von Halter zu Halter geschubst worden, landete dann im Tierheim, und immer war er mit neuen, mit für ihn fremden Menschen konfrontiert.
: Ich möchte aber das er Besuch, wenn schon nicht freundlich, so doch wenigstens neutral behandelt. Ich will es auch versuchen! Aber wie gehe ich vor? Besuch kommt - Hund Knurrt! Wann soll man da clicken? Wer kann mir einen schrittweisen Weg aufzeigen? Bin für jeden Hinweis dankbar!!!
Ich habe ebenfalls einen schwer traumatisierten Hund bei mir unter dem Schreibtisch liegen, er kam mit ca. 7-8 Monaten zu uns und lebt seit 6 Monaten bei uns. Und ich hatte dasselbe Problem "Besuch, nein Danke".
Als erstes habe ich nicht den Hund, sondern Freunde von mir "bearbeitet", die auch vor großen schwarzen Hunden keine Angst haben, und sie um ihre Hilfe gebeten. Sie kamen, der Hund ging skeptisch und bellend und knurrend hin, und sie blieben erstmal in der Diele stehen, die Hände in den Hosentaschen (wo keine Hände zu sehen sind, können zumindest die Hände auch nicht wehtuen), und schauten die Decke an, die Wand an, in den Garten hinaus, spielten also "oh, wie schön ist Panama" und bewegten sich nicht. Und nach einer mehr oder weniger langen Zeit (mal eine Minute, mal 2, manchmal auch schon nach dem allersersten wuffknurr) hat Lorbas sich "getrollt". Ich habe dann die Freunde gebeten, hereinzukommen, sich hinzusetzen und den Hund weiterhin nicht zu beachten, und zwar gar nicht. Das war vorher alles schon abgesprochen, es gab nur immer auch die Vereinbarung "erinner mich bitte, was als nächstes kommt". Der Hund war also quasi Luft. Er existierte nicht. Er wurde, außer von mir, auch nicht aus den Augenwinkeln beobachtet. Und dann kam er meistens recht schnell wieder aus seiner Schreibtischhöhle heraus, weil er ja doch wissen wollte, wer denn da ist, und er durfte schnüffeln, mußte sich aber nicht anfassen lassen (das hätte sofort ein Drohschnappen zur Folge gehabt). Und dann ging er wieder, und kam dann nochmal, usw. Die Freunde verhielten sich ruhig, keine hektischen Bewegungen, wer mal wohin mußte, ist langsm aufgestanden, mit 2 Metern Abstand um Lorbas' Schlafplatz herumgegangen und langsam durch die Tür verschwunden. War's Lorbas unheimlich, und er bellte, wenn der Besuch wiederkam, stand der Besuch wieder als Salzsäule da und wartete. Und mit der Zeit habe ich Lorbas "ausgetrickst". Er hatte sich mit eineigen Menschen so weit angefreundet, dass er sie inzwischen stürmisch begrüßt, wenn sie kommen, und sich riesig freut, wenn sie uns auf unseren Wanderungen begleiten. Und mit diesen Freunden habe ich dann wechselnde Zeiten verabredet, zu denen sie kurz zu uns kamen, und habe jedesmal, kurz bevor die Klingel ging, schon mit einer hellen und freudevollen Stimme und Stimmung gesagt "oh, Lorbas, schau mal, wer kommt denn da, ja, wer kommt denn da" (ja, ziemlich kitschig, und er versteht kein Wort davon, aber so kam ich am schnellsten von "hoffentlich geht's gut" in "hach, ja, kein Problem"-Stimmung), so dass sich meine Stimmung auf ihn übertragen konnte (die ersten Male bei den Versuchen war ich natürlich auch arg angespannt, und das übertrug sich prompt auf den Hund, also mußte ich lernen, vorher dreimal tief durchzuatmen und mir in's Gedächtnis zu rufen "er frißt den Besuch nicht", "er hat Angst", "er wird's lernen, wenn ich ihm helfe".
Und jedesmal, wenn Lorbas dann beim Klingeln erst überhaupt ohne zu bellen, und dann freudig aufgeregt zur Tür ging, gab's viele Clicks und viele dicke Belohnungen (mit Futter im Maul bellt sich's außerdem schlecht).
Dann wurde er "abgefüttert", wenn der Besuch kommt, d.h., das klingeln war dann schonmal ok. aber wenn er den Fremden sah, kam die Panik wieder. Also (erstmal ohne Click) habe ich ihm Futter hingehalten, ihn mit Futter abgelenkt. Nahm er es trotz Stress an, entspannte sich also ein wenig, C+B. und so haben wir uns "gesteigert" auf nur noch kurz bellen, nur noch wuffen, nicht mehr wuffen, einfach unter dem Schreibtisch verschwinden, wenn's ihm nicht geheuer ist. Nach dem Bellen, wuffen usw. habe ich immer eine kurze Pause abgewartet, damit er nicht verknüpft "wenn ich belle, bekomme ich Futter". Und mit dem anfänglichen "Ablenken von der Gefahr mit Futter" haben wir den Einstieg in eine weitergehende Deeskalation gefunden. Mittlerweile läßt er sich von manchen Besuchern schon füttern und auch mal anfassen, aber das sind ausgewählte Kandidaten (wobei ich nicht weiß, wie Lorbas sie sich aussucht). Wenn ihm jemand ganz unheimlich ist, kommt es schon noch vor, dass er erstmal bellt oder wufft, aber der Besuch kann an ihm vorbeigehen und sich hinsetzen. Wichtig ist bei uns gewesen, dass die ersten für Lorbas fremden Menschen, die in die Wohnung kamen, wirklich gut instruiert waren und ruhig blieben, dass sie "mitspielten", denn dann hat der Hund die Chance, "Besuch kommt" wirklich neu zu verknüpfen.
Ich habe Lorbas in solchen Situationen mit "dosenweise Thunfisch" abgelenkt, denn den findet er ziemlich unwiderstehlich.
Der Besuch kann ja auch gerne später im Bogen Futter fallen lassen (weit weg hinwerfen würde ich erstmal nicht vorschlagen, wenn Timor als Welpe mißhandelt wurde, wird er sich da evtl. sehr schnell bedroht fühlen und evtl. schnappen). Und der Besuch muß sich vom Hund erstmal fernhalten. so toll Dein Hund ist, so gerne ihn mancher sicher mal knuddeln möchte, wer ihm was gutes tuen will, läßt ihn erstmal in Frieden. Timor wird von sich aus kommen, wenn er sich sicher genug fühlt, und auch dann würde ich Dir raten: für den Besuch gilt erstmal weiterhin: Hände weg vom Hund. Timor wird zeigen, wenn er von einem Fremden angefaßt werden möchte, das kann dauern, das kann schnell gehen (Lorbas braucht im Durchschnitt sechs Stunden, um sich von jemandem anfassen zu lassen, mal geht's schneller, mal geht's gar nicht, und in den sechs Stunden beobachtet er den Besuch bnonstop und prüft, ob er ihm wirklich vertrauen kann, denn auch wenn ich noch soviel "das ist ok." ausstrahle, den Punkt "anfassen lassen wollen oder nicht" gebe ich an den Hund ab.
: Den das ist eigentlich das letzte Problem mit Timor. Ansonsten ist er ein ganz toller Kerl geworden!
Dann habt Ihr doch gemeinsam schon wirklich viel erreicht, und wenn Du jetzt dieses letzte Problem betrachtest, ruf Dir immer wieder mal in's Gedächtnis "so haben wir mal angefangen, dann kamen viele Versuche, dann kam der Clicker, Timor ist ein ganz toller Kerl geworden, und diese letzte Hürde nehmen wir auch noch!"
Harald, ich hoffe, ich konnte Dir damit schonmal etwas weiterhelfen, ich wünsche Dir und Timor viele gute Freunde, die Euch helfen, auch diesen wunden Punkt in Timors Seele noch zu heilen
Viele Grüße von
Helke und einem ehemals sehr angstagressiven Lorbas