Dominant, Aggressiv und Ängstlich???
06. Februar 1999 16:52

Hallo,
ich habe ein recht schwieriges Problem, das heißt, eine gute Bekannte hat es. Sie hat einen 2,5 Jahre alten Hovawart-Rüden. Dieser ist sehr lebhaft, tobt und spielt unheimlich gerne und hat nur Dummheiten im Kopf. Meine Hündin hat ihn praktisch mit aufgezogen, die beiden lieben sich heiß und innig. Aber zu Hause gibt es mit dem Rüden große Probleme. Meine Bekannte kommt nur am Wochenende heim, sonst ist der Hund hier bei ihrem Vater, der mit ihm auch hundeschule macht, und sich veil mit ihm beschäftigt. Es war aber schon immer so, daß der Rüde scih gegen ihn gestellt hat, wenn die Tochter nach hause kam. Er läßt grundsätzlich niemanden an sein Futter, auch bei Spielzeug ist es schwierig. Das eigentliche Problem ist aber, daß die Beißschwelle extrem niedrig ist. Er knurrt kaum, sondern setzt sofort zum Angriff an. Als er ein Jahr war, kam sein Herrchen ins Wohnzimmer und setzte sich auf einen Sessel. Der Hund lag unter dem Tisch. Als der Mann aufstehen wollte (er hat sich gar nicht um den Hund gekümmert), schoß der Hund unter dem Tisch hervor und biß ihn in den Arm. Kein Scheinangrif mit ein paar Kratzern, sondern eine richtige Wunde. Darauf hin wurde der Rüde kastriert, und die Tierärztin schlug vor, ihm die Reißzähne abzuschleifen. Meine Bekannten gingen darauf ein, da sie auch keine andere Lösung wußten. Zumindest tiefe Wunden kann er jetzt nicht mehr verursachen. Der Hund schläft jetzt im Keller, darf nur unter Aufsicht in die Wohnung, und Vater und Tochter halten sich nicht mehr in einem Raum auf, wenn der Hund dabei ist. Trotzdem machte sich der Hund sonst ganz gut, war draußen weiterhin freundlich, und auch der Vater hatte die Woche über keinerlei Probleme. Der Rüde gehorchte nicht mal schlecht, wenn er auch sehr dickköpfig ist. Ich muß dazu sagen, daß die Familie selbst nicht gerade dominant ist, und dm Hund viel durchgehen gelassen wird, was selbst ich meiner nicht dominanten Hündin verbiete.
Das Problem ist aber auch die starke unsicherheit des Rüden. Auf jeden Grashalm, der sich bewegt, stürmt er knurrend zu. Kommen Leute, knurrt er, und stürmt darauf zu. Er jagt Autos, was ihm auch nicht abzugewöhnen ist. Im Dunkeln kann man ihn nicht von der Leine lassen, weil man Angst haben muß, daß er jeden beißt, einfach aus Angst. Damit hatten sich die Besitzer ja soweit eigentlich arrangiert, aber jetzt tritt ein neues Verhalten auf. Meine Bekannte war letztes Wochenende nicht da. Als sie gestern kam, war der Hund sehr unsicher in der Wohnung. Er guckte sich ständig unsicher um, knurrte sofort, wenn ein außergewöhnliches Geräusch da war und wußte offensichtlich nicht, wie er sich verhalten sollte. Meine Freundin sagt, er knurrt jetzt eigentlich niemanden mehr an, sondern ist allgemein verunsichtert. Das ist ja auch in so fern gefährlich, als die Hemmschwelle zum Beißen bei ihm so niedrig ist. Was kann man denn tun, um einem Hund die nötige Sicherheit zu geben? Strenge und Durchsetzungsvermögen bewirken bei ihm eher noch mehr Unsicherheit. Andererseits ist er ja auch dominant, er würde wahrscheinlich schon gerne die Rudelführung übernehmen, ist aber nicht mutig genug, es noch mal zu versuchen.
Man kann an der Situation, das am Wochenende das Frauchen kommt, auch nichts ändern, zumindest im Moment nicht. Außerdem ist sich meine Bekannte eigentlich sicher, daß, wenn sie den Hund die ganze Woche hätte, er irgendwann bei ihr versuchen würde, sich durchzusetzen.
Ich würde mich über Lösungsvorschläge freuen, aber auch gerne wissen, was ein solches Verhalten auslösen kann. Der hund tendiert ja stark zum Angstbeißer, ist das eigentlich angeboren? Er hat zumindest in den letzten 2,5 Jahren nie schlechte Erfahrungen mit Menschen gemacht, und auch beim Züchter ist das nicht wahrscheinlich. Er stammt von einem Bauernhof und einer sehr netten Familie.
Vielleicht weiß ja jemand, wie man helfen kann, vor allem, weil der Rüde mir und meiner Hündin gegenüber sehr freundlich ist.

Eva und Rio


06. Februar 1999 20:01

Liebe Eva,

die Tatsache, daß der Hund vom Bauernhof kommt, könnte seine Unsicherheit zumindest teilweise erklären. Ich nehme an, daß er während der ersten acht Wochen, vielleicht noch länger, mangelhaft oder fehlerhaft geprägt wurde. Wenn er nicht viel kennengelernt hat, könnte das seine Reaktion auf verschiedene Situationen erklären. Die Genetik spielt natürlich auch eine Rolle. Dazu kommt die Rasse: Als Hovawart hat er vermutlich einen ausgeprägten Schutztrieb und ein starkes Revierverhalten. Insgesamt ist er auf alle Fälle ein Arbeitshund, der zwar vielseitig einsetzbar ist, aber eine konsequente Erziehung braucht - und die scheint ihm leider zu fehlen.

Nach Deiner Beschreibung macht der Hund auf mich stark den Eindruck eines sehr verunsicherten Vierbeiners, der dringend auf der Suche nach Sicherheit ist. Daß er sich so scheinbar indifferent und widersprüchlich verhält, könnte daran liegen, daß er eigentlich gar nicht der Typ des Alphahundes ist, aber notgedrungenermaßen auf diese Position zuarbeitet, weil seine Menschen ihm das nicht abnehmen. Ich denke, es wäre dringend nötig, daß der Hund endlich den ihm zustehenden Platz im Rudel bekommt: Als untergeordnetes Rudelmitglied. Und ich vermute sogar, daß er ein sehr zufriedener (und damit umgänglicher) Hund sein würde, wenn er klare Grenzen bekäme und damit auch die nötige Sicherheit.

Unter den gegebenen Umständen ist das allerdings wohl ziemlich schwierig zu erreichen: Der Mann, mit dem er die meiste Zeit verbringt, hat Angst vor ihm, und auch Deine Bekannte scheint dem Rüden nicht viel entgegenzusetzen. Wenn das so weiterläuft, werden die beiden aber mit Sicherheit immer massivere Probleme bekommen. Der Rüde wird erst zwischen 3 und 4 Jahren richtig psychisch erwachsen sein und bis dahin seine derzeitige Position (notgedrungen) weiter ausbauen. Um etwas zu ändern, müßten die Besitzer einiges an ihrem Umgang mit dem Hund ändern. Irgendwo im Forum (vielleicht inzwischen im Archiv) steht ein Artikel mit dem Titel "Hat Ihr Hund Sie gut im Griff?". Die Umkehrung der dort aufgeführten Verhaltensweisen könnte ein erster Schritt in die Richtung sein. Damit wäre eine sukzessive Änderung der Dominanzstruktur zu erreichen, ohne daß gleich massiv auf den Hund eingewirkt werden muß. Ich vermute zwar, daß das in diesem Fall nicht ausreichen wird, aber vielleicht hilft es den Leuten, sich überhaupt erzieherisch an ihren Hund heranzuwagen. So wie ich das sehe, müssen sie erst einmal ihre eigenen Ängste überwinden. Das ist immer schwierig, wenn der Hund bereits einmal ernsthaft angegriffen hat. Trotzdem muß es sein, wenn Deine Bekannte und ihr Vater nicht demnächst völlig unter der Fuchtel des Rüden stehen wollen.

Liebe Grüße,
Jutta