Moritz können diese Zeilen nicht mehr helfen -- er wird in wenigen
Stunden eingeschläfert. Doch eine Mischung aus Kummer, Wut und
dumpfer Ahnung, schlimme Fehler gemacht zu haben, treiben mich zu
dieser Art von Nachruf.
Als ich den Schäfer-Mischling Moritz das erste Mal im Tierheim sah, hat es
irgendwie gleich "gefunkt". Ich suchte eigentlich gar keinen Hund.
Aber so ein hübscher und wacher Kerl -- man kann ja mal fragen...
Was ich dann allerdings von der Heimleitung zu hören bekam, dämpfte meine
Euphorie schlagartig: vor mehr als einem Jahr an einer
Bundesstrasse im Alter von ca. 12 Monaten aufgegriffen,
wahrscheinlich ein Husky- oder Schlittenhund/Schäfer-Mischling,
ohne Halsband (ausgesetzt...), absoluter Alpha-Rüde,
hat schon diverse Eingliederungsversuche hinter sich,
keiner hat es länger als zwei Tage mit ihm ausgehalten, Mobiliar
hat er komplett zerlegt, wurde vom Tierarzt nach bösem Kampf
mit anderem Rüden zusammengeflickt, hat auch schon Menschen gebissen.
Ein echter Problemhund also! Nur noch ein paar Wochen bis zur Spritze,
wenn der Platz für die "Sommerhunde" benötigt wird...
Trotzdem dachte ich, eine Chance sollte er noch bekommen. So ging ich
ganz behutsam vor, allein schon deshalb, weil mir unsere dreijährige
Tochter wichtiger als jeder Hund ist und meine Frau der ganzen
Sache ohnehin ziemlich skeptisch gegenüber stand.
Vor acht Wochen holte ich ihn das erste Mal ab. Alles verlief problemlos,
wenn er auch an der Leine zog, als ob er einen LKW aus dem Schlamm
befreien müsste. Nach ein paar Tagen aber lief er schon ohne Ziehen,
schliesslich gab's hin und wieder ein Leckerli, wenn er sich benahm.
Seltsam nur, dass er ausser "Sitz" offenbar kein Kommando kannte.
Bei "Platz" blickte er mich nur fragend an, probierte
allerlei Kunststückchen um an das Leckerli zu kommen, aber
auf die Idee, sich hinzulegen kam er nicht. Nach zwei Wochen konnte
er es. Von da an lernte er Schlag auf Schlag (oder erinnerte er sich?).
Er lief bald ohne Leine und entfernte sich praktisch nie weiter als
zehn Meter von mir. Regelmässig suchte er den Blickkontakt und ich konnte
ihn praktisch immer heranrufen. Perfekt wie im Lehrbuch also.
Wir gingen auch regelmässig auf den Hundeplatz. Es war eine echte Freude
mit anzusehen, wie er sich mit den anderen Hunden arrangierte.
Von wegen Alpha-Rüde, der sich in jeden anderen Hund verbeisst!
Ging ich bei einem Streit weg und rief "komm", hörte er sofort
auf zu raufen, und lief mir nach. Was will man mehr?
Ich konnte überhaupt nicht verstehen, dass ein so lernwilliger
und gehorsamer Hund solch schlimme Dinge gemacht haben soll.
Spielen konnte er allerdings nur mit Artgenossen, nie mit mir und auch
nicht mit anderen Menschen. Stöckchen holen, gar Apportieren,
Tannenzapfen suchen, mit dem Ball spielen oder einen alten Lappen
abklauen kannte er nicht. Jeder Versuch blieb zwecklos.
Heute weiss ich, dass das ein Alarmzeichen ist (- s. diverse Bücher
von E. Trumler).
Einziges Spiel blieb ein zärtliches "Beissen" in meinen Unterarm
und vorsichtiges Herumbalgen -- so gut man da als Mensch bei
30 Kilo Hund eben mithalten kann.
Doch schliesslich hatte er auch meine Frau um den Finger gewickelt und
wir beschlossen, ihn endgültig zu uns nach Hause zu nehmen.
Küche ist verboten! Essen vom Tisch gibt's nicht! Widerstand zwecklos!
Am ersten Tag wollte er es zwar noch ziemlich oft wissen,
ob die Küche wirklich verboten ist, aber schon
am zweiten Tag hat er es akzeptiert und blieb brav an der Türschwelle
stehen, sogar wenn gekocht wurde und ich nicht in Sichtweite war.
Unfassbar, dass die anderen nicht mit ihm klargekommen sein sollen.
So ein braver und schlauer Hund!
Nach ein paar Tagen aber war er schlagartig wie ausgewechselt:
Ein vorbeifahrendes Auto wurde plötzlich angebellt,
einem Radfahrer drohend hinterhergelaufen, echte oder vermeintliche
Tiere im Wald gejagt und das Kommando "Komm" geflissentlich überhört.
Alles Verhaltensweisen, die er vorher nie gezeigt hatte!
Als ich ihn von einem Hof holte, weil er nicht kam, knurrte er mich sogar an!
Da ich mich unter keinen Umständen anknurren lassen will,
massregelte ich ihn mit beiden Händen durch Hochnehmen und
anschliessendem Runterdrücken am Hals. Er warf sich dann auch
auf den Rücken und es schien alles wieder gut.
Doch der Schein trog! Am gleichen Nachmittag passierte es:
er löste sich in unserem Garten, was mir natürlich nicht gefiel
und ich darauf hin (für seine Begriffe) wohl im Ton etwas zu
harsch reagierte. Er sprang sofort wie wild herum, rannte durch den Garten
wie von der Tarantel gestochen und nahm die typische
"spiel-mit-mir"-Stellung ein. Ich ging darauf ein und es begann das
inzwischen geübte Beiss- und Umwerfspiel.
Dabei "biss" er jedoch so fest zu, dass ich mir ohne feste Jacke
wohl eine ernste Fleischwunde zugezogen hätte. Auch auf "Schluss"
hörte er erst nach mehrmaliger Wiederholung und sprang selbst danach
immer noch wie wild durch den Garten. Dabei knurrte er ziemlich furchterregend.
Wir gingen sofort zum Abreagieren raus. Er biss in die Leine,
attackierte sogar Baumstämme, sprang herum wie ein wilder Hengst
und verhielt sich extrem aggressiv. So hatte ich ihn noch nie gesehen!
Das ganze Spektakel dauerte etwa eine halbe Stunde. Mich griff er
zwar nicht direkt an, aber ich muss gestehen, dass mir ziemlich
mulmig zumute war. Zum Glück kamen keine Passanten oder andere Hunde vorbei.
Mir wurde klar, dass dieser Hund eine echte Gefahr für meine Familie,
insbesonders für meine Tochter darstellt.
Ich bin mir sicher, dass der Biss nicht als echter Biss gemeint war
(sonst könnte ich wohl kaum mehr diese Zeilen tippen), aber Moritz
hat offenbar nie gelernt, dass Menschenarme nicht aus Titan sind.
Auf dem Nachhauseweg war zwar wieder alles normal und friedlich,
"Fuss", "Sitz", "Platz", "Komm", usw. klappten wieder,
trotzdem habe ich innerlich vor diesem Hund kapituliert.
Die Sicherheit meiner Familie geht vor. Meine Frau hatte nach
dem Vorfall regelrechte Angst vor ihm. Gestern Abend brachte ich ihn
ins Tierheim zurück. Wer das ohne Tränen fertigbringt, ist kein Mensch.
Die Leiterin des Tierheimes entschied auch sofort --
doch letztlich bin ich derjenige, der sein Todesurteil besiegelt hat.
Es plagt mich die Frage, ob mein Entschluss voreilig war.
War ich vielleicht zu streng mit ihm?
Oder war es im Gegenteil ein Versuch, die Rangordnung zu ändern?
Wenn ja, was habe ich falsch gemacht?
Wie passt das mit seinem sonst so problemlosen Gehorsam zusammen?
Oder hätte ich ihm einfach mehr Zeit geben sollen?
Neben Trauer mischt sich aber auch Wut gegen die (Un-)Menschen, die
diesen sonst so lieben und intelligenten Hund zum psychischen
Krüppel gemacht und ausgesetzt haben.
Wer ist hier überhaupt der Krüppel?!
(Antworten bitte auch als Mail direkt an harald@krake.de)