von Harr & Ronja(YCH) am 09. September 1999 17:12
Hallo Yasmin,
: Geduld und Konsequenz sind kein Problem, aber was mit
: "absolute Abbruchschwelle" gemeint ist mußt Du unbedingt erklären.
Ich will's zumindest mal versuchen:
Zuerst sollte man einsehen, dass ein Abbruchkommando etwas vollkommen
anderes ist als z.B. "Sitz" oder "Platz". Um das zu verstehen,
muss man folgendes wissen:
a) Einen Hund kann man durch Motivation (lies mal die FAQ zum Clickertraining)
nahezu alles beibringen, nur eines nicht: ein Kommando etwas bestimmtes
nicht(!) zu tun. Also "hol den Ball" oder "Komm" oder "Sitz" kann man
bestens durch Motivation (Leckerli, Loben, Clicker, usw.) trainieren,
aber keine Kommandos wie: "nicht den Ball holen", "nicht hinsetzen",
"nicht bellen". Warum ist das so? Weil eine logische Verneinung
(tue nicht das und das) eine sehr hohe Abstraktionsleistung ist, zu
der ein Hundehirn einfach nicht fähig ist. Bestimmt hat jetzt jemand
im Forum einen Superhund, der auf "still" aufhört zu bellen (so einen
habe ich auch :-), aber hier ist "still" genau betrachtet einfach ein
weiteres Abbruchkommando, d.h. der Hund würde bei "still" auch sofort
aufhören am Teppich herumzunagen. Wir benutzen halt nur verschiedene
Abbruchkommandos in unterschiedlichen Situationen. Das nährt in uns
zwar die Illusion, der Hund würde die Bedeutung von "still" erfassen.
Das kann er aber leider nicht.
b) Das Sozialverhalten von Hund und Mensch weist gewisse Ähnlichkeiten
auf. Insbesonders sind Hund und Mensch in der Lage, intuitiv zu erkennen,
wann sein Gegenüber böse wird, wann er milde gestimmt ist, usw...
Wenn ein Hund mit gefletschten Zähnen knurrend auf einen zugerannt
kommt, dann muss man schon mit dem Klammerbeutel gepudert sein,
um nicht zu erkennen, dass es gleich ziemlich eng wird. Das müssen
wir nicht lernen. Umgekehrt kann der Hund seinen Menschen auch
sehr gut einschätzen.
c) Hunde gehören wie Menschen zu den Lebewesen, deren Sozialverhalten
sehr stark ausgeprägt ist. Das setzt aber auch voraus, dass ein grosser
Teil des Verhaltens erlernt werden muss und nicht instinktiv abläuft.
Die Natur schafft sich durch diesen Trick die notwendigen
Anpassungsspielräume, die Hunde wie Menschen dazu befähigen,
sich noch innerhalb der gleichen Generation an geändernde Lebensumstände
effektiv anpassen zu können (also ohne Evolutionsmechanismen, die sehr
lange dauern).
Gelernt wird durch vier Grundmechanismen:
- additive Bestärkung (R+), d.h. der Hund lernt Verhaltensweisen, die
belohnt werden. Das ist die gängige Methode für "Sitz", "Platz", usw...
- subtraktive Bestärkung (R-), d.h. dem Hund wird etwas unangenehmes
weggenommen. Er fühlt sich sozusagen erleichtert.
- additive Bestrafung (P+), d.h. der Hund wird für ein Verhalten bestraft.
Hierüber wird auch das Abbruchkommando gelernt.
- subtraktive Strafe (P-), d.h. Entzug von etwas angenehmen (z.B. Spielabbruch).
d) Die Natur hat dafür gesorgt, dass P+ über sehr simple und
für jedes Individuum schnell erlernbare Signale quasi Priorität
vor allen anderen Lernvorgängen hat.
Warum? Weil es keinen Sinn macht, dass jeder Welpe selbst ausprobieren
muss, ob diese oder jene Schlange nun giftig ist oder nicht.
Der erste Fehlversuch könnte tödlich enden. Also haben sozial
lebende Tiere die konditionierte Strafe erfunden. Der Rüde knurrt
seinen Welpen an, wenn er etwas nicht darf. Wenn er es trotzdem tut,
gibt's einen Scheinangriff. Das macht er ein paar mal und der
kleine hat schnell kapiert: "wenn Papa knurrt, sofort aufhören".
Der Welpe muss die eigentliche Strafe (von der Schlange gebissen
zu werden) nicht mehr selbst erfahren. Das schont die Population
und das genau ist sozial.
So, und nach dem ganzen Vorgeplänkel kommen wir jetzt endlich zum
Abbruchkommando.
Wir haben gesehen, dass man ein NEIN (allgemein verwendetes Wort
für das Abbruchkommando) nicht durch Leckerlis oder positive
Konditionierung dem Hund rüberbringen kann, denn nach (a) kann
der Hund nicht negieren und nach (c) liegt für das Abbruchkommando
mit P+ eben ein anderer Lernmechanismus zugrunde als mit R+ für
die sonst so netten Kunststückchen, die wir unseren Hunden so
alle beibringen.
Gott sei Dank ist der Hund aber sehr intelligent und kann die
Gemütslage des Menschen nach (b) recht gut einschätzen.
Wir nutzen deshalb einfach (d) aus und machen dem Hund klar,
was NEIN bedeutet, indem wir ganz einfach böse werden,
wenn unser Hund das NEIN nicht befolgt. Genau an dieser
Stelle wird oft der entscheidende Fehler gemacht:
Wenn der Hund ein NEIN nicht befolgt, werden wir leider nicht immer
richtig böse. So lernt der Hund das nie!
Normalerweise ahmt man einfach einen Scheinangriff (Schnauzengriff)
nach und führt sich halt so böse auf wie man eben kann.
(natürlich gibt's Ausnahmen, z.B. bei aggressiven Hunden die gleich
zubeissen, wenn man ihnen dumm kommt. Ich rede hier von
normal sozialisierten Hunden!).
Die ganze Sache hat allerdings einen Schönheitsfehler: selbst wenn
der Hund gelernt hat, was NEIN bedeutet, heisst das noch lange nicht,
dass er es auch immer befolgen wird. Unser lieber Hund wäre kein
Hund, wenn er nicht ausprobieren wollte, wie weit er mit uns gehen kann.
(Kinder machen das übrigens genau so!).
Und damit sind wir bei der Abbruchschwelle.
Wir fangen klein an, z.B. Leckerli auf den Boden legen und warten
bis Pfiffi dran will. Dann ein NEIN (ruhig gesprochen, drohender
Unterton). Wenn er jetzt trotzdem dran will (was wir hoffen),
werden wir richtig sauer, so sauer, dass dem Kleinen die Spucke
wegbleibt. Man nennt diesen Vorgang tabuisieren (das Leckerli
ist tabu). Der Wolfpapa macht's genau gleich (hat E.Trumler in
seinen diversen Büchern super beschrieben).
Nun kann ein Hund es durchaus verschmerzen, mal ein Leckerli
liegen zu lassen, aber wie sieht's z.B. mit dem so wahnsinnig
interessanten Mülleimer aus?
Auch hier wieder die gleiche Übung. NEIN und wenn er's nicht
befolgt, ihm klar machen, dass NEIN auch hier gilt.
So steigert man sich langsam aber sicher Stüfchen um Stüfchen
die Abbruchschwelle hinauf, bis hin zum berühmten Hasenjagen.
Wichtig hierbei ist nur, dass man sich Zeit lässt und Geduld
mitbringt. Wenn ein Hund einen Abbruch nicht befolgt, heisst
das nicht, dass er einem den Vogel zeigt, sondern nur, dass
er die gesamte Tragweite des Neins eben noch nicht ganz
begriffen hat. Also nicht böse sein, wenn der Hund trotz NEIN
abhaut und nach 10 Minuten total abgekämpft zurückkommt.
Offenbar war hier die Lernkurve zu steil. Also nochmal einen
Gang zurück und üben, üben, üben...
An dieser Stelle möchte ich noch eine CARE-Besonderheit erwähnen,
die ich für sehr wichtig halte: Wenn man konsequent bei jedem
Scheinangriff ein geschriehenes HEY verwendet, wird HEY zur
konditionieren Strafe für eben diesen Scheinangriff. Man hat
damit eine mächtige Steigerungsmöglichkeit zum NEIN, die auch
auf Distanz wirkt.
Ich habe schon Situationen erlebt, wo Ronja auf ein NEIN nicht
reagierte, als aber kurz darauf das HEY kam, sofort stehenblieb
und mich ansah.
Ich hoffe nach dem langen Text ist jetzt auch klar geworden,
warum ein "Platz" oder "Komm" oder ein Pfiff vollkommen
ungeeignet ist, einen Hund z.B. vom Jagen abzuhalten.
Diese Kommandos wurden mittels R+ erlernt (hoffentlich!).
Die vom Hund zu erwartende Belohnung für die Befolgung des
Kommandos ist absolut lächerlich gegen die Belohnung, die
er durch das Jagen erhält. Wenn er nicht total verblödet ist,
wird er es geflissentlich überhören.
So, jetzt muss ich aber mit Ronja raus...
Bis dann,
Harr & Ronja.