Hallo Claudia,
Bisher war ich zu schreibfaul und die ganze Diskussion auf Deine Frage hin war mir auch schon wieder zu emotional und zu extrem um mich einzumischen, jetzt will ich Dir aber doch noch kurz von meinen persönlichen Erfahrungen berichten.
Mein Rüde, heute vier Jahre alt hatte ähnliche Probleme wie Deiner als er geschlechtsraif und erwachsen wurde, erschwerend hinzu kam, daß er ohnehin ein eher ängstlicher unsicherer Hund ist. Anfangs war es auch meist so, daß nur die anderen Rüden ihn aggressiv bedrängten und etwa ab dem zweiten Lebensjahr begann er dann auch selber Probleme mit anderen Rüden zu entwickeln. Zum einen zeigte er aggressives Verhalten, das deutlich angstbedingt war, zum anderen aber immer noch in Verbindung mit rüdentypischem Imponierverhalten. Mir war immer klar, daß ich an SEINEM Verhalten in diesem Alter durch eine Kastration nicht mehr viel würde ändern können. Ich fing dann also an, intensiv mit ihm an dem Problem zu arbeiten. Einerseits hatte ich damit auch super Erfolg, ich konnte nach einer Weile immer mit vorbildlich auf mich konzentriertem Hund ohne Aggression an anderen Rüden vorbeikommen. Ohne Leine im Hundeauslaufgebiet beclickerte ich sein Ausweichen und andere Calming signals gegenüber anderen Rüden und auch das klappte sehr gut, solange Platz zum Ausweichen vorhanden war. Andererseits hatte ich aber immernoch das Problem, daß die wenigsten Hundehalter zum einen bereit waren, ihre Hunde von meinem angeleinten auf mich konzentrierten fernzuhalten, zum anderen waren andere Rüden eben immernoch extrem an meinem interressiert in Form von Imponier- und Drohverhalten. Ich konnte mit der Situation aber so ganz gut leben und hatte eigentlich beschlossen, meinen nicht kastrieren zu lassen und eben einfach immer weiter zu üben und zu trainieren.
Mit ca. 2,5 Jahren fing er dann an ständig deutliche Stressymtome zu zeigen, auch zu hause, wenn gar keine anderen Hunde in der Nähe waren. Er war ständig unruhig, ständig am Hecheln, hatte andauernd Stresserektionen, verweigerte oft das Futter, bekam schlechtes Fell usw.
Ich ließ ihn mehrmals vom Tierarzt durchchecken, weil ich zunächst eine organische Ursache vermutete. Bei diesen Untersuchungen kam aber nie etwas heraus, außer, daß mein Hund eben unter ständigem Dauerstress litt. Ich versuchte also zunächst, am täglichen Leben etwas zu ändern, den Alltag stressfreier zu gestalten, weniger intensives Training am Sozialverhalten, dafür mehr körperliche Auslastung etc. alles ohne Erfolg, ich hatte zwar weiterhin einen vorbildlich erzogenen und inzwischen auch mit den allermeisten Hunden recht umgänglichen Hund, der aber eindeutig unter ganz massivem ständigen Stress stand, so daß es schon zu körperlichen Erscheinungen führte.
Schließlich, als er drei Jahre alt war, habe ich mich dann doch für eine Kastration entschieden, eigentlich aus Verzweiflung, so als letzte Möglichkeit vielleicht doch den Stresslevel meines Hundes noch etwas senken zu können. Und ich kann nur sagen, ich habe es absolut nicht bereut.
Wie erwartet hat sich am Verhalten meines Hundes nicht sehr viel geändert durch die Kastration (außer ein paar eindeutig hormongesteurte Verhaltensweisen wie Hündinnenurin auflecken u.ä.). Allerdings hat sich deutlich das Verhalten anderer Rüden gegenüber meinem geändert, zwar wird er natürlich immernoch hin und wieder bedroht und Rüden kommen eher unfreundlich auf ihn zu, dann wird aber kurz geschnüffelt und meiner offensichtlich unter "keine Gefahr/Konkurrenz" eingestuft und jeder zieht seiner Wege. Die Stresserscheinungen (die sicher AUCH zu einem guten Teil hormonbedingt waren durch Geruch ständiger läufiger Hündinnen in der Umgebung u.ä.) haben seither fast völlig aufgehört.
Ich bin heute der Meinung, man muß wirklich von Hund zu Hund abwägen ob man kastriert oder nicht und kann einfach nicht pauschal Kastration befürworten oder strikt ablehnen, ich finde es gibt durchaus vernünftige Gründe einen Rüden unter gewissen Umständen kastreiren zu lassen, auch wenn er keine Krankheit hat die es unumgänglich macht. Solche Gründe haben auch durchaus nicht immer nur was mit Faulheit, Bequemlichkeit oder Unfähigkeit in der Hundeerziehung zu tun. Ich denke, man kann einfach die heutigen in dichtbesidelter Zivilisazion lebenden Hunde nicht mit einem Wolfsrudel vergleichen, in dem unkastrierte Tiere problemlos zusammenleben und eben nur das ranghöchste deckt. Streng genommen bildet doch jeder allein gehaltene Rüde sein eigenes "Rudel" und steht dadurch in ständiger Konkurrenz mit allen anderen Rüden der Umgebung. Wenn nun der ein oder andere Rüde diesem Stress offensichtlich nicht gewachsen ist, dann halte ich es für eine absolut legitime und tiergerechte Entscheidung, hier im Einzellfall den betreffenden Hund zu kastrieren.
Ist jetzt n bisschen lang geworden, aber ich denke, bei so kontroversen Themen macht es eben nur Sinn, wenn man seine Meinung ausführlich erklärt ;-)
Viele Grüße, Anne.