Liebe Niki,
ich kann mir lebhaft vorstellen, daß Dir dieses Erlebnis gewaltig an die Nieren geht und Dir Schuldgefühle macht. Das ist für mich die NORMALE Reaktion eines Hundebesitzers auf einen derartigen Vorfall. Trotzdem schreibe ich Dir nicht, um noch mehr Asche auf Dein Haupt zu häufen, sondern um das Ganze in einige für mich wichtige Zusammenhänge zu stellen.
Was Dir mit Deinem Hund passiert ist, kann grundsätzlich jedem Besitzer eines Hundes anderer (größerer) Rassen auch zustoßen. Meuteverhalten entwickelt manchmal eine Eigendynamik, die vom Menschen nur noch sehr schwer oder gar nicht mehr zu beeinflussen ist. Und hier wäre für mich der Bereich, wo ich zunächst einhaken würde: Wenn man mit einem Hunderudel (und das können manchmal bereits zwei Hunde sein) unterwegs ist, sollte man genau wissen, wie sich dieses in bestimmten Situationen verhält. Den meisten Hundebesitzern geht es wie Dir: Sie knüpfen mit ihrem Welpen oder Junghund Kontakte und treffen sich zu gemeinsamen Unternehmungen. Anfangs ist das völlig unproblematisch, die Hunde toben, spielen und freuen sich über jeden Neuankömmling. Die Menschen wissen um die Notwendigkeit, innerhundliches Sozialverhalten zu trainieren. Was sie aber oft übersehen ist, daß das Spiel von Hunden niemals zweckfrei ist. Und genauso, wie die Hunde den Umgang miteinander lernen, üben sie im Laufe der Zeit viele andere Dinge, die ihrem Instinkt gemäß das Überleben sichern. Dazu gehören z.B. die Jagd und die Verteidigung des Rudels nach außen. Dabei erreichen sie dann immer wieder Punkte, die die Menschen überhaupt nicht mehr toll finden.
Je regelmäßiger ein bestimmtes Rudel zusammen unterwegs ist, und je ungestörter vom Menschen die Hunde miteinander umgehen können, desto schneller und nachhaltiger entwickeln sie Meuteverhalten. Hier müßte der Mensch immer wieder in diesen Prozeß eingreifen und mit seinem Hund Übungen in Richtung Führerbindung machen. Bei zufälligen Hundebegegnungen tun das die meisten Menschen automatisch, weil sie potentiell gefährliche Situationen vermeiden wollen. Meist klappt das auch entsprechend gut. Innerhalb eines vertrauten Rudels sehen die Zweibeiner aber dazu meist keine Veranlassung, da sich die Hunde untereinander ja vertragen. Werden diese Hunde älter, verhalten sie sich irgendwann im "Ernstfall" genauso, wie sie es im gemeinsamen Spiel trainiert haben. Und wenn die einzelnen Hunde bereits vor diesem Punkt nie gelernt haben, daß IMMER ihr Mensch das Sagen hat, besteht dann überhaupt keine Veranlassung, sich jetzt plötzlich wieder an ihrem Menschen zu orientieren.
Ich schreibe das deshalb so ausführlich, weil ich mir Gedanken über den "Leinenzwang" für Deinen Hund mache. Für mich wäre die erste Konsequenz aus dem Vorfall nämlich die, daß ich das Rudel nur noch unter kontrollierbaren Bedingungen zusammenlassen würde (also beispielsweise mit einem Zaun drumrum). Dein Hund allein wird sich nämlich in vielen Fällen anders verhalten. Das Problem der "Kampfhundrassen" ist tatsächlich generell das, daß sie mit zunehmendem Alter mit anderen Hunden unverträglich werden. Sie wurden über lange Zeit für Hundekämpfe gezüchtet, und man kann nicht erwarten, daß die Sozialisation eines Welpen ausreicht, um die Genetik außer Kraft zu setzen. Das bleibt (zumindest kurzfristig) ebenso Wunschdenken, wie bestimmten Jagdhundrassen ihr Jagdverhalten, Herdenschutzhunden ihr Schutzverhalten oder manchen Hütehunden ihr Hüteverhalten absprechen zu wollen. Hier kann nur eine konsequente und langfristige züchterische Einwirkung eine Verhaltensänderung bewirken. Daß das funktioniert, sieht man beispielsweise bei Hunden aus Showlinien, die ihr (eigentlich rassetypisches) Verhalten fast völlig verloren haben. Wie ich von einigen Bullterrier-Züchtern erfahren habe, wird z. B. bei dieser Rasse bereits seit etlichen Jahren entsprechend gearbeitet. Inwieweit sich das schon auswirkt, kann ich leider nicht sagen.
In Deinem Fall kommen also mehrere Faktoren zusammen: Zum einen das rassebedingte Verhalten gegenüber anderen Hunden, das sich allerdings erst völlig gefestigt haben wird, wenn Dein Hund zwischen drei und vier Jahren alt ist. Und zum anderen der Angriff der Meute, der grundsätzlich bei Hunden aller Rassen passieren kann. Wenn Du Deinen Hund künftig nur noch angeleint spazierenführst, wird er mit großer Wahrscheinlichkeit einen enormen Energiestau aufbauen. Hunde sind Lauftiere, und ich bezweifle, daß der Freilauf in einem (noch so großen) Grundstück auf Dauer ausreicht, um diese Energien abzubauen. Du kannst selbst am besten die Körperkräfte eines Staffs einschätzen: Ich denke, wenn Dein Hund an der Leine irgendwann WIRKLICH losgehen will, wirst Du keine Chance haben, ihn daran zu hindern.
Für mich wären folgende Maßnahmen sinnvoll: Den Hund durch Sport körperlich und geistig möglichst gut auslasten. Ein Turnierhundsport- oder Agilityparcours wäre dazu sicherlich geeignet. Beim ersteren hast Du die Möglichkeit, mit dem Hund zunächst an der Leine zu arbeiten, so daß Du ihn daran gewöhnen kannst, die anderen Hunde auf dem Platz zu ignorieren. Gleichzeitig intensivierst Du die Beziehung zwischen Euch und damit auch die Führerbindung. Du kannst auch mit dem Hund Fahrrad fahren, wobei das in erster Linie der Bewegung dient. Dazu solltest Du aber eine entsprechende Sicherheitshaltung am Fahrrad haben (z.B. von Springer), die es Dir auch ermöglicht, das Fahrrad unter Kontrolle zu haben, wenn Dein Hund plötzlich wegzieht. Beim Spazierengehen solltest Du Dir immer wieder Gegenden aussuchen, wo Du mit großer Wahrscheinlichkeit keinem Hund begegnest und Deinen Hund dort laufen lassen. Dabei kannst Du wunderbar mit ihm spielen und Eure Bindung intensivieren. Abgesehen von ihren Schwierigkeiten mit anderen Hunden. entwickeln gerade die meisten "Kampfhundrassen" sehr enge Beziehungen zu ihren Menschen. Achte aber gleichzeitig darauf, daß Dein Hund lernt, sich auch Fremden gegenüber freundlich oder zumindest neutral zu verhalten.
Und was den Kontakt mit anderen Hunden betrifft: Solange es gut geht, laß ihm "sein" Rudel, aber unter kontrollierten Bedingungen. Ich rate Dir nicht, Kontakte mit fremden Hunden zu suchen. Nicht, weil ich davon überzeugt bin, daß das schief geht. Ich vermute, daß er bei etwa gleich großen Hündinnen durchaus freundlich reagiert. Ich denke aber an Deine eigene Angst, die sich wohl seit dem Vorfall entwickelt hat, und die Du vermutlich nicht auf Knopfdruck abschalten kannst. Sicherheit des Hundeführers ist aber entscheidend wichtig in potentiellen Risikosituationen. Dein Hund "braucht" im Erwachsenenalter keine "Spiel"kontakte zu anderen Hunden, um zufrieden zu sein. Du solltest aber durch viel gemeinsame Arbeit einen Punkt erreichen, wo Du Dich an der Leine auf ihn verlassen kannst. Und den bekommst Du nach meiner Meinung nur, wenn Du sein Grundbedürfnis nach Laufen und Beschäftigung erfüllst.
Liebe Grüße,
Jutta
P.S: Habe gerade erst die Meldung von Burkhard gelesen. Seine Bullierfahrung scheint die Züchteraussauge zu bestätigen.