Liebe Leute,
über das Kastrieren ist schon viel diskutiert worden. Trotz der Gefahr von Wiederholungen möchte ich diese Meldung zum Anlass nehmen, über das Thema ein paar Gedanken zu sammeln. Aufmerksam geworden durch den Satz in der Meldung von Manu zum Thema Kupieren und Zwingerhaltung: "Ich könnte ja auch munter drauf los kastrieren...", bin ich überrascht, wie viele Teilnehmer dieses Forums aus den verschiedensten Gründen eine Kastration ablehnen, oder zumindest nicht in Betracht ziehen, wenn keine "Notwendigkeit" zu bestehen scheint.
Obwohl ich die Kastration bei Rüden und Hündinnen befürworte, geht es mir hier in erster Linie um die Kastration von Rüden.
Ich hoffe ganz besonders auf Antworten und Erfahrungen von Leuten, die auch mit Hunden arbeiten und die deshalb für die unter 3. näher beschriebene Zusammenhänge sensibilisiert sind. Natürlich freue ich mich aber auch auf alle anderen Antworten...
1.Ich persönlich könnte mir nicht vorstellen, mit Hündin und Rüde in einem Haus zu leben, sofern nicht einer von beiden kastriert ist, ist es doch meist mit großem Stress für Mensch und Hund verbunden, die beiden im Falle einer Läufigkeit auseinanderzuhalten. (Wenn ich nicht züchten möchte. Aber selbst Leute, die in kleinem Rahmen züchten, verzichten meist auf die Haltung eines Deckrüden, wegen eben dieses Problems, und weil sie normalerweise mit verschiedenen Rüden "arbeiten". Und sollte Nachzucht behalten werden, darf sie ja auch nicht vom Papa gedeckt werden. Harmonische Familienhaltung ist somit kaum mehr möglich.)
Bei der Haltung kommt natürlich mein Streben nach Bequemlichkeit hinzu, denn ich möchte meine Hunde überall mit hinnehmen. Urlaub, Spaziergang ohne Leine, Hundeplatz (besonders lange, denn die anderen Hunde werden bis zu vier-fünf Wochen vom Geruch irritiert) fallen in der Zeit der Läufigkeit aus. Solange fristen meine Hündin und ich ein vergleichsweise langweiliges Dasein. Habe ich mehrere Hündinnen, die evtuell zu verschiedenen Zeiten läufig sind, verlängern sich die Problemzeiten entsprechend.
2. Unkastrierte Rüden, die nicht zur Zucht verwendet werden, sind für mich oftmals ein Ärgernis. Über die Einstellung gerade vieler männlicher Hundehalter zur Kastration wurde ja schon bei "Rüden kastrieren?" eingegangen. Ich kann die Erfahrungen bezüglich mancher männlicher Hundehalter nur bestätigen. Viele lassen ihren Tieren (z.B. beim Spaziergang) nach dem Motto "Lass ihm doch auch seinen Spass" alle Freiheiten, ohne sich Gedanken über eine gewisse Höflichkeit gegenüber ihren Mitmenschen, in diesem Fall auch gegenüber Mithunden zu machen. Ein Beispiel: Wir treffen im vielbegangenen Spazierpark des öfteren einen großen Jagdhundmix, der grundsätzlich meiner Whippethündin - auch wenn sie nicht läufig ist - sofort nachstellt. Bei einer Begegnung belästigte er sie derartig, das sie - die nicht zimperlich bei der Abwehr ist - nach einiger Zeit bei mir Schutz suchte, was ihr nichts nützte, und schließlich in meinen Kinderfahrradanhänger sprang und herausknurrte. Sobald er abdrehte sprang sie heraus, und sofort wieder hinein, sobald sie seiner ansichtig wurde. Eigendlich ein witziges Bild, aber die ganze Belästigung dauerte ca. zwanzig Minuten, bis wir, weil ich nicht in der Stimmung für Diskussionen war, den kürzeren zogen und gingen. In dieser Zeit war Spielen für meine Hündin nicht möglich und auch die anderen Hunde waren ob des Schauspiels relativ wenig entspannt. Es hätte für den Rüdenbesitzer (ein älterer Herr) eindeutig zu erkennen sein müssen, das meine Hündin unter starkem Streß stand. Trotzdem stand er die ganze Zeit unbeteiligt am Rand und hielt dieses penetrante Gebahren offensichtlich für das ganz normale Spielverhalten seines Hundes. Einige Hundebesitzer akzeptieren und fördern (oft unbewußt) ein solch übersteigertes Sexualverhalten (auch agressiveres Verhalten) ihrer Tiere, eine meiner Bekannten, die eine Hundeschule betreibt, nennt sie treffend "Potenzverstärkerhunde". Über die Charaktereigenschaften solcher Hundehalter ließe sich spekulieren....
Wichtig! 3. Das Problempotential, das wegen nicht kastrierten Rüden besteht, wird meiner Meinung nach unterschätzt! Der immer wieder unpassend herangezogene Vergleich mit dem Wolf zeigt uns hier erst recht die Andersartigkeit der Lebensumstände unserer heutigen Haushunde. Im Gegensatz zu Wölfen werden viele unserer Hündinnen meist zweimal, selten sogar dreimal im Jahr läufig. Vor allem in Städten übertreten sie wegen Überbevölkerung ständig die nur noch imaginären Rudelgrenzen der vielen anderen Hunde. Ein Rüde kann beim Spaziergang durch die Stadt an jeder dritten Ecke auf die Markierungen verschiedener läufig werdender/läufiger/gewesener Hündinnen und den Antworten fremder Rüden treffen, so das sich sein Hormonspiegel, erhöhte Bereitschaft zur Agressivität, alles was zum Verhaltenskomplex Sexualität gehört, sich während des Ganges aufbauen kann, ohne das der Hundebesitzer etwas bemerkt (er ist ja keinem fremden Hund begegnet!). Der Hund leidet erstens unter der Zivilisationserscheinung Reizüberflutung und kann überdies die Handlungsantworten auf diese Reize nicht ausleben, so das sie eventuell in abgewandelter Form oder in unpassender Situation ausgeführt werden und so zu Problemverhalten werden.
Übrigens fand ich bei Nachfragen im Bekanntenkreis über den oben erwähnten (nicht übermässig agressiven) großen Rüden heraus, das er einige Zeit zuvor - für sein Herrchen unerklärlich - eine andere Windhündin gebissen hatte, nachdem die Beiden zuvor, mit Anderen, völlig friedlich über eine Stunde spazieren gegangen waren. Hier könnte z.B. durchaus eine solche, für den Hundehalter schwer zu durchschauende, lange Zeit aufgebaute Handlungsbereitschaft im Spiel gewesen sein.
4. Wegen vorgenannter Umstände bin ich der Meinung, das gewissenhaftes Kastrieren aller nicht zur Zucht verwendeter Rüden eine Menge Probleme verhindern könnte. (Das soll selbstverständlich nicht heißen, das Kastrieren eine sorgfältige Erziehung ersetzen soll oder kann. Auch kastrierte Hunde sollten einen angemessene Grundgehorsam haben. Es soll auch nicht heißen, das es nicht Hunde gibt, die ihr Leben lang in dieser Hinsicht keine Probleme machen und ebenfalls nicht, daß es nicht auch kastrierte Hunde mit Problemverhalten gäbe, das dann vielleicht andere Wurzeln hat.) Aber Vorbeugen ist besser als heilen. Ich möchte zu bedenken geben, das man nicht auf der einen Seite davon reden kann, das man nicht in die Natürlichkeit des Hundes eingreifen möchte, aber anderseits übersieht, das durch die Veränderung der Lebens- und Haltungsumstände, durch Zuchtauslese und viele andere Faktoren schon längst eingegriffen wurde und wird, und wir auf die daraus entstehenden Konsequenzen bestmöglich eingehen sollten.
5. Die Rüdenkastration ist heute ein kleiner, normalerweise unkomplizierter Eingriff, der in den meisten Fällen allen Beteiligten mehr Lebensqualität schenkt. Auch bei Hündinnen, wo ja eine etwas größere OP anliegt, scheinen mir die gewonnenen Vorteile größer als die Gefahr von Komplikationen, wobei mir die Berichte von Inkontinenz u.ä. oft übertrieben scheinen. Fast alle Nichtzuchthunde in meinem Bekanntenkreis sind kastriert, Rüden wie Hündinnen, gerade wenn mehrere im Haushalt leben. Alle Hundebesitzer, die kastrierte Hunde haben, würden weitere Hunde ebenfalls kastrieren, oder tun es auch schon "seit mehreren Hunden". Alle Hunde sind damit glücklich und Nebenwirkungen kenne ich kaum welche. (Letzens traf ich allerdings einen Rüden, der auf andere Hunde einen solchen anziehenden Geruch zu haben scheint, das sie ihn ständig belästigten, aber er war sehr früh (vielleicht zu früh?) vor Erreichen der Geschlechtsreife kastriert worden.) Es gab Untersuchungen, wonach sehr frühes Kastrieren bei Hunden eine Abnahme der Reaktionfähigkeit der Großhirnrinde und schwächere Nervenaktivität bewirkte, woraus eine schnelle Ermüdung und abnehmende Lernfähigkeit resultierten (nachzulesen bei Aldington, Von der Seele des Hundes). Mir ist über diesen Sachverhalt nicht näheres bekannt, vielleicht kennt ja jemand neuere Forschungen zum Thema?? Ich kenne einige Hunde , die mit etwa 1/2 Jahr kastriert wurden und keinen augenfälligen Schaden in dieser Richtung davontrugen.
P.S.: Meine zehnjährige Terrier/Schnauzermischung lebt seit acht Jahren ohne Nachteile kastriert. Meine Whippethündin ist gerade läufig (nerv) und ich würde sie sofort kastrieren, wenn sie nicht noch Nachwuchs bekommen sollte...
Mit der Hoffnung auf rege Beteiligung grüßt Anneke!