von Antje(YCH) am 18. Juni 2003 21:29
Hallo Jettie,
in einem Wolfsrudel gibt es eine Alphahündin und einen Alpharüden. Die weiblichen Tiere haben untereinander eine Rangfolge, die männlichen ebenfalls, was darin gipfelt, daß sich i.d.R. nur die beiden Alphatiere paaren. Natürlich kommunizieren die männlichen und weiblichen Tiere untereinander auch und es ist auch hier klar ersichtlich, wer weit oben oder unten steht. Aber bestimmte Dinge müssen nicht bis ins Detail "ausdiskutiert" werden zwischen Rüde und Hündin.
Für einen Hund ist das gesamte soziale Umfeld sein "Rudel". D.h. er stuft alle Individuen dieser Population untereinander ab und gliedert sich in der Ramgfolge irgendwo ein. Und häufig ist für ihn nicht derjenige, der sich viel und häufig um ihn kümmert, der Alpha des Rudels, sondern eine ganz andere Person. Wobei sich Alpha ja nicht immer um jeden kümmert, sondern ein Tier weit unten in der Rangfolge mehr Kontakt zu den Tieren hat, die rangmäßig mehr in seiner Nähe stehen.
: Vor einigen Jahren haben wir eine Schäferhündin (rote Papiere, was
: immer das auch heissen mag...)
Es heißt nicht viel... ;-)))
: Ich war bisher der Meinung dass dieser Hund falsch aufgezogen wurde
: und bemühte mich sehr im Vertrauen und Halt zu geben, leider hat sie
: sich nur im Haus stabilisieren lassen, ausserhalb war nix zu machen.
Es gibt beim DSH leider Linien, aus denen häufiger Vertreter kommen, die Probleme im Wesen haben. Das resultiert darauf, daß es Züchter gibt, die auf Teufel komm raus einen "schönen" Hund züchten wollen und andere Sachen bei der Zuchtselektion außen vor lassen. Wenn aber die mentale Belastbarkeit genetisch nicht gefestigt wird, man so einen Hund erwischt, kann die beste Prägung der Welt daraus keinen wesensstarken Hund machen.
Natürlich spielt auch Fehlprägung beim Züchter eine Rolle. Kaum Kontakt zum Menschen, Aufzucht nur im Zwinger, u.U. die ersten Monate zusammen mit den Wurfgeschwistern, vielleicht eine wesensschwache Mutterhündin oder Amme, die ein extrem schlechtes Beispiel für die Welpen darstellt usw. So etwas kann genau so tief sitzen wie eine genetische Komponente, dagegen kann man später kaum noch etwas machen. Ganz schlimm wird es natürlich, wenn ein geentisch vorbelasteter Hund eine so schlechte Frühprägung erfährt...
: Nun tendiert unsere 5-monatige Hündin seit kurzem ebenfalls in
: Richtung ängstlich/unsicher. Sie schreckt vor Regenschirmen zurück,
: laute Geräusche lassen sie aufspringen, ein spielerisch geworfener
: Luftballon hat sie so erschreckt dass sie in den Garten flüchtete,
: fremde Menschen werden angebellt....
: Ich bin mir keiner Schuld bewusst dieses Verhalten verursacht oder
: gefördert zu haben und frage mich nun wie das kommt. Hat es was mit
: dem Alter zu tun? Je älter der Hund wird umso stärker nimmt er seine
: Umwelt wahr? Ist es ein angeborener Wesenszug der sich erst jetzt
: zeigt? Habe doch ich daran Schuld? Die Hündin ist rund um die Uhr in
: unserer Nähe, sie war bereits zweimal mit auf dem Campingplatz, wir
: haben immer Leben in der Bude (2 Kinder) und wir gehen täglich
: mehrmals raus ins Dorf oder ins Feld...
Das kann man eigentlich nicht beantworten ohne den Hund gesehen zu haben. Es wäre möglich, daß der Hund genetisch vorbelastet ist, sprich daß er aus einer Linie stammt, aus der häufiger Hunde mit nervlichen Problemen stammen. Du hast recht wenn Du schreibst, daß das Wahrnehmungsvermögen des Hundes sich vergrößert. Er bemerkt nun Dinge, die er vorher schlichtweg nicht registriert hat.
Ein Kleinkind hat häufig keinerlei Angst vor Spinnen und anderweitigem Krabbeltier, manchmal muß man sogar auspassen, daß sich die lieben Kleinen solch Getier nicht in den Mund stecken. So ein Kind ist nicht mutig, wenn es die Kellertreppe an einer dicken Spinne vorbei hinuntergeht. Beim Älterwerden, wenn sich die entsprechenden Nervenbahnen schließen, beginnt das Kind darüber nachzudenken, und ein Jahr später wehrt es sich mit Händen und Füßen, wenn es im Keller eine Sprudelflasche holen gehen soll, weil dort evtl. eine Spinne sitzt...
Beim Hund verlaufen solche Entwicklungen ähnlich. Mit 5 Monaten bereitet sich die kleine Hündin vielleicht schon auf die erste Hitze vor, kommt in die Pubertät. Dann ist die Phase der "Phantomangst" nicht mehr weit. Beim DSH liegt sie normalerweise etwas später, kommt aber immer auf die Rasse und auch auf das einzelne Individuum an. Der Hund ist schon hunderte Male an einer Mülltonne vorbeigelaufen, und plötzlich kommt der Tag an dem er denkt "HILFE, 'ne Mülltonne!!!".
: Was kann ich tun? Ich habe nun Bedenken dass sie auch ein
: ausgesprochen nervöser Hund werden könnte - das möchte ich
: verhindern, denn die Lebensqualität eines solchen Hundes ist nicht
: gerade top oder?
Nein, die Lebensqualität eines solchen Hundes ist nicht die beste... Du mußt für den Hund der Fels in der Brandung sein. Er muß sich auf Dich und Deine Reaktionen verlassen können, Du mußt in Deinem Handeln für ihn immer berechenbar sein. Wenn er ins Meiden verfällt darfst Du ihn auf gar keinen Fall darin bestätigen (streicheln, füttern etc.), denn damit würdest Du dieses Meiden verstärken. Wenn Dir jemand klar machen würde, daß Dein Meiden völlig richtig ist, würdest Du ja die Situation bei nächster Gelegenheit noch stärker meiden. Wenn die Hündin also jetzt mal Anzeichen von Unsicherheit verspürt, z.B. vor einer Mülltonne, einem Ackergerät etc., dann beachte sie gar nicht und geh einfach ganz ruhig weiter. U.U. betrachtest Du Dir das gefährliche Ding sogar selbst, aber in einer Weise ohne auf den Hund einzugehen.
U.U. leidet die Hündin auch unter einer Reizüberflutung. Manchmal ist etwas weniger mehr bei einem jungen Hund. Das wichtigste ist aber, daß sie einen Menschen hat, an dem sie sich orientieren kann und der für sie immer berechenbar reagiert.
Viele Grüße
Antje